Fallgeschichten wie diese sind keineswegs neu. Vielmehr handelt es sich bei der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) um ein altbekanntes psychiatrisches Phänomen. Erste Beschreibungen reichen zurück bis ins 19. Jahrhundert, als sich die Psychiatrie als Wissenschaft gerade erst etablierte. Der französische Psychiater Pierre Janet (1859 – 1947) machte bei einigen seiner Patienten, die belastende Lebenserfahrungen hinter sich hatten, eine seltsame Beobachtung: Bestimmte Verhaltensweisen oder auch Erinnerungen der Betroffenen schienen sich ihrer bewussten Kontrolle zu entziehen.

Augenscheinlich hatten sich die verschiedenen Bewusstseinsinhalte als Folge eines traumatischen Ereignisses voneinander getrennt, existierten jetzt nebeneinander und führten als »fixe Ideen« ein Eigenleben. Diesen Prozess bezeichnete Janet im Jahr 1889 als Dissoziation.

Janet gegen Freud - Schnell entwickelte sich das Konzept in philosophischen und psychiatrischen Kreisen zu einem heiß diskutierten Thema. Janet arrivierte damit zum wissenschaftlichen Konkurrenten Sigmund Freuds, der bei seinen hysterischen Patientinnen ähnliche Symptome beobachtet hatte. Auch er vermutete als Ursache zunächst traumatische Erfahrungen, insbesondere innerfamiliären Missbrauch.

Später distanzierte er sich jedoch von dieser anstößigen Erklärung und stufte die Schilderungen der Patientinnen als Fantasien ein. Seine gesellschaftsfähigere Theorie der Verdrängung ebnete der Psychoanalyse den Weg. Diese und die Arbeiten von Eugen Bleuler über die Schizophrenie sollten in den kommenden Jahrzehnten den psychiatrischen und psychotherapeutischen »Mainstream« beherrschen.

Das Konzept der Dissoziation geriet nahezu in Vergessenheit. Dennoch wurden bis 1944 über siebzig Fälle einer DIS publiziert. Erst in den 1970er Jahren erwachte das Interesse an der Traumaforschung erneut – zum einen als Folge des Vietnamkriegs und zum anderen durch die Frauenbewegung, die sexuellen Missbrauch erstmals öffentlich thematisierte. Im Jahr 1980 fanden dann die dissoziativen Störungen zusammen mit anderen posttraumatischen Erkrankungen Eingang in die damalige dritte Auflage des amerikanischen psychiatrischen Diagnosehandbuchs (Diagnostic and Statistical Manual of Psychiatric Disorders) DSMIII.

Diese offizielle Anerkennung markierte den Beginn umfassender wissenschaftlicher Forschung auf dem Gebiet der Dissoziation. Jetzt, da das Krankheitsbild mit standardisierten Methoden fassbar war, stellte sich heraus, dass DIS weitaus häufi ger vorkam als bisher angenommen. Verschiedene Studien an stationären psychiatrischen Patienten in Nordamerika, aber auch in Europa und der Türkei, kamen zu dem Ergebnis, dass ein bis fünf Prozent dieser Menschen an der Krankheit litten. Meist handelte es sich um Frauen. Heutige Schätzungen gehen von achtzig Prozent weiblichen Betroffenen aus.

Viele DIS-Kranke schilderten traumatische Erlebnisse aus der Kindheit, da von bis zu neunzig Prozent körperlichen oder sexuellen Missbrauch. Dokumentiert sind aber auch Fälle emotionaler Grausamkeit, extremer Vernachlässigung, Armut oder das Miterleben eines gewaltsamen Todes. Verglichen mit anderen psychisch Kranken hatten diese Menschen besonders häufig und besonders schwere traumatische Erfahrungen gemacht. Alles in allem stützte dies die Hypothese, dass wiederholte kindliche Traumatisierungen zu einer anhaltenden Dissoziation der Persönlichkeit führen können.

Diese Schlussfolgerung blieb jedoch nicht unwidersprochen. Insbesondere warf man Therapeuten vor, das spektakuläre Auftreten in verschiedenen Identitäten bei ihren Patienten gewollt oder unbewusst selbst herbeizuführen. Dieser Vorwurf läuft insofern ins Leere, als ein Wechsel zu einer anderen Persönlichkeit in der Praxis nur selten beobachtet wird. Im Gegenteil: Wie auch im geschilderten Fallbeispiel versuchen die meisten Betroffenen dieses erschreckende dissoziative Symptom vor ihren Mitmenschen zuverbergen.

Zu den entscheidenden Merkmalen gehören vielmehr: Gedächtnisprobleme, Trancezustände, quälende innere Stimmen oder offensichtliche Anzeichen für Taten oder Verhalten, an die man sich nicht erinnern kann Eine Diagnose anhand eines Verhaltens »wie verschiedene Persönlichkeiten« wird der DIS ebenso wenig gerecht wie »Traurigkeit« die Diagnose einer depressiven Störung erlaubt. Aber auch an der traumatischen Ursache der Erkrankung wurden Zweifel laut. So argumentieren DIS-Gegner, bei den in der Therapie aufkommenden traumatischen Erinnerungen handele es sich nur um durch den Therapeuten suggestiv erzeugte Fantasien. Die vermeintlichen Erinnerungen des Patienten seien Pseudo- Erinnerungen und das Beharren darauf Teil einer eigenständigen Erkrankung, des False-Memory-Syndroms. Die extremsten Vertreter dieser Position behaupten, dass man Traumatisierungen in der Kindheit, insbesondere sexuellen Missbrauch, unmöglich vergessen kann.

Vergessene Erinnerungen Diese Vorstellung ist heute wissenschaftlich eindeutig widerlegt. Im Jahr 1994 und 1995 befragte Linda M. Williams (Wessley/USA) 129 Frauen, die als Kinder 17 Jahre zuvor wegen sexuellen Missbrauchs im Krankenhaus untersucht worden waren. Etwa 38 Prozent berichteten nicht über die dokumentierten Vorfälle. Ihre Antworten ließen darauf schließen, dass sie diese keineswegs absichtlich verschwiegen, sondern zum Zeitpunkt der Befragung sich einfach nicht daran erinnern konnten. Ähnliches beobachteten Cathy S. Widom und Norval Morris 1997. Sie interviewten 96 Personen, bei denen zwanzig Jahre zuvor sexueller Missbrauch gerichtlich festgehalten worden war. Auch hier erwähnten 37 Prozent auf Nachfrage das Trauma mit keinem Wort. Zudem konnte der Psychologe Hans Markowitsch von der Universität Bielefeld das Phänomen autobiografi scher Gedächtnisblockaden sogar per funktioneller Bildgebung auf hirnphysiologischer Ebene nachweisen.

Indes macht die kontroverse Diskussion die Schwachstellen des Konzepts der DIS deutlich. Die bisherigen offiziellen Kriterien begünstigen in der Tat eine willkürliche Diagnose: Sie sind zu abstrakt und beschreiben das Krankheitsbild nicht präzise genug. So bleibt DIS für viele Therapeuten mysteriös und folglich auch unseriös.

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