Worin liegt der biologische Sinn der Dissoziation? Das Verhalten von Menschen mit DIS kann sich in bestimmten Situationen so schlagartig ändern, dass sie nach außen hin wie eine vollkommen andere Person wirken – und genauso fühlen sich die Betroffenen auch. Obwohl sich die Störung bei jedem Patienten sehr individuell manifestiert, lässt sich ein charakteristisches Grundmuster erkennen:

Neben einer relativ unauffälligen »Alltagsperson«, die eher zu wenig gefühlsmäßiges Erleben zeigt, agieren zeitweise eine oder mehrere andere »Personen «, die von traumatischen Emotionen geradezu überflutet werden. Natürlich handelt es sich dabei nicht um verschiedene Persönlichkeiten in einem Körper, sondern um abgespaltene Aspekte der Gesamtpersönlichkeit, die aber wie eigene Identitäten erlebt werden.

Das Wechseln in eine andere Person können die Betroffenen normalerweise nicht steuern, ja oft wissen sie gar nichts davon. Der Psychologe Ellert Nijenhuis vermutet, dass jeder Mensch über mindestens zwei angeborene Funktionssysteme verfügt: ein normales Alltagssystem und ein Überlebenssystem für extreme Bedrohungen.

In starker emotionaler Bedrängnis zieht sich das Bewusstsein zurück – es schottet sich ab, um einströmenden Reizen und überwältigenden Emotionen zu entkommen. Die Folgen dieses Notfallmechanismus äußern sich in den bekannten posttraumatischen Symptomen, wie drängenden, ängstigenden Erinnerungsbildern (»Flashbacks«), die sich mit emotionaler Taubheit und Abgestumpftsein abwechseln.

Schützende Fantasien Normalerweise werden Alltags- und Überlebenssystem durch das Bewusstsein irgendwann wieder miteinander verbunden. Bei wiederholten und länger anhaltenden Traumatisierungen in der Kindheit kann sich diese Integrationsfähigkeit des Gehirns jedoch nicht entwickeln. Insbesondere inzestuöser sexueller Missbrauch fördert die dissoziative Bewältigungsstrategie. Da die Bezugspersonen die Geschehnisse leugnen, flüchtet das Kind in die Vorstellung, die Grausamkeiten seien gar nicht ihm, sondern jemand anderem passiert. Oft schafft es sich dabei sehr fantasievolle Projektionsfiguren, die den verschiedenen Persönlichkeitszuständen schließlich ihre Individualität verleihen.

Der ursprüngliche Sinn der Dissoziation besteht also darin, eine innere Wirklichkeit zu schaffen, die ein emotionales Überleben in traumatischen Situationen gewährleistet. Doch einmal als Bewältigungsstrategie gebahnt, wird sie bei wiederkehrenden Traumatisierungen immer selbstverständlicher genutzt: Die dissoziative Reaktion schleift sich ein. Auf diese Weise können sich viele verschiedene »Personen« bilden, meist bis zu zehn, in Extremfällen aber auch zwanzig und mehr. Obwohl Vorläufer und erste Symptome der DIS meist schon im Kindesalter auftreten, wird die Störung oft erst im Erwachsenenalter diagnostiziert. Der Kern der Krankheit besteht nicht in der Dissoziation selbst, sondern darin, dass die dissoziative Bewältigungsstrategie sich verselbstständigt und so im Alltag zur Belastung wird.

Wie kam Karins Ärztin zu ihrer Diagnose? Es lagen typische Verdachtsmomente vor: Gedächtnisprobleme und Amnesien waren die wichtigsten Hinweise, aber auch das Misslingen vorhergehender Behandlungen, drei oder mehr unterschiedliche Vordiagnosen, selbst verletzendes Verhalten und wechselnde psychosomatische und psychiatrische Symptome. Wie andere Patienten mit Dissoziativer Identitätsstörung wurde Karin in ihrer Kindheit schwer misshandelt und sexuell missbraucht.

zurück zur Historie weiter zu Therapie